Mehr Platz für Bücher und Menschen
Nationalbibliothek am Standort Leipzig erweitert
Im Märchen erfüllt die gute Fee die Wünsche von Menschen, die schwierige Aufgaben zu lösen haben. In der Realität müssen sie sich selber kümmern. Beim Erweiterungsbau der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig ist der bei Projekten dieser Art seltene Fall eingetreten, dass die drei Hauptwünsche des Auftraggebers, den Bau in hoher architektonischer wie funktioneller Qualität bei Einhaltung des Kostenlimits von 60 Millionen Euro termingerecht fertigzustellen, auf ganz normalem Wege in Erfüllung gegangen sind, obwohl die Aufgabe unbestritten höchst kompliziert war.
Seit der Wiedervereinigung bildet die Deutsche Bücherei Leipzig zusammen mit der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main und dem Deutschen Musikarchiv in Berlin die „Deutsche Bibliothek", die als Nationalbibliothek zur lückenlosen Sammlung deutschsprachigen Schrifttums verpflichtet ist. Während in Frankfurt 1996 mit einem Neubau neue Speicherkapazität geschaffen wurde, platzten in Leipzig die Magazine unter der „Last" des Bestandes von mehr als 26 Millionen Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und digitalen Werken aus den Nähten.
Schon als die Deutsche Bücherei im Jahre 1916 fertiggestellt worden war, sagte deren Architekt Oskar Pusch hellseherisch die Notwendigkeit von künftigen Erweiterungsbauten voraus. Er sollte Recht behalten. Der derzeitige jährliche Zuwachs von 300 000 Publikationen setzte in jüngster Vergangenheit die vierte Erweiterung auf die Tagesordnung. Die Zielstellung des dazu ausgeschriebenen baulichen Realisierungswettbewerbes lautete, mit dem Erweiterungsbau eine Nutzfläche von gut 10.000 Quadratmeter für neue Büchermagazine und die Umsiedlung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums aus dem Alt- in den Neubau zu schaffen. Der neue Gebäudeteil sollte in organischer Weise in das Gesamtensemble der Deutschen Bücherei integriert werden, das neben dem denkmalgeschützten Baukörper des spätwilhelminischen Altbaus am Deutschen Platz auch die siloartigen 55 Meter hohen „Büchertürme" aus den Jahren 1976-1982 umfasst, die eine Brücke zu den Hochhäusern an der Straße des 18. Oktober in der Nachbarschaft schlagen. Der Siegerentwurf der Stuttgarter Architektin Gabriele Glöckler unternimmt gar nicht erst den Versuch, zwischen diesen Kontrapunkten zu vermitteln oder sich an Vorhandenes anzupassen, sondern fügt den Erweiterungsbau als prägnantes eigenständiges Element an den Altbau an, ohne ihn in seiner Rolle als Dominator des Deutschen Platzes zu beschädigen.
Mit seiner gekrümmten Fassade nimmt er den Schwung des ein Jahrhundert zuvor entstandenen Baudenkmals auf. Der Baukörper aus Betonfertigteilen ist in eine aus Metallplatten bestehende, an einen Bucheinband erinnernde Außenhaut gekleidet, unter der sich die Hauptmagazine befinden. Das unter einer ausgeklügelten Tragwerkskonstruktion liegende Buch- und Schriftmuseum blickt mit seiner verspielten Glasfassade auf den Deutschen Platz. Drei Viertel des Zugewinns an Raum und Fläche entfällt auf die Magazine, der verbleibende Teil auf das Deutsche Buch- und Schriftmuseum sowie das von Berlin nach Leipzig umgesiedelte Deutsche Musikarchiv. Nahezu das ganze Erdgeschoss bleibt Ausstellungs- und Leseräumen vorbehalten. Auf seinem Weg durch die Ausstellungen trifft der Besucher frühzeitig auf einen in Form und Gestaltung überraschenden Raum im Raum, dessen Wände mit Vitrinen bestückt sind, aber darüber hinaus den besonderen Glanz von poliertem Stein verbreiten. Diese Ausstrahlung ist das Ergebnis der Verwendung einer neuartigen Spachtelmasse des renommierten Herstellers Caparol, die vorzugsweise für repräsentative Wandgestaltung eingesetzt wird. Im Gegensatz zu bereits auf den Markt befindlichen Produkten bedarf StuccoDecor Di Luce keines zusätzlichen Überzuges, sondern erzeugt Glanz und Spiegelungen aus eigener Kraft. Eine so beschichtete Oberfläche ist zudem lichtbeständig und reinigungsfähig. Der Erweiterungsbau der Leipziger Nationalbibliothek ist nicht nur zu loben wegen seiner Übereinstimmung von Form und Funktion, sondern auch wegen der Wahl geeigneter Mittel und Materialien.
Autor: Wolfgang Strehlau
Fotos: Anke Müllerklein/ Caparol Farben Lacke Bautenschutz
Bautafel
Projekt:
Deutsche Nationalbibliothek/ Deutsche Bücherei Leipzig
4. Erweiterungsbau
Bauherr:
Bundesrepublik Deutschland
Nutzer und Eigentümer:
Deutsche Nationalbibliothek
Architektin:
Gabriele Glöckler, Stuttgart (mit dem Entwurf „Inhalt-Hülle-Umschlag")
Siegerin im europaweiten Architekturwettbewerb von 2002
Beginn der Bauarbeiten:
Grundsteinlegung Dezember 2007
Ende der Bauarbeiten:
Eröffnung Mai 2011
Baukörper:
Freigeformter Baukörper mit 14.000 Quadratmeter Nutzfläche, neun Geschossen, davon drei unterirdischen Magazinetagen, Bruttorauminhalt des Neubaus 90.346 Kubikmeter
Kosten:
60 Millionen Euro
Nutzer:
Deutsche Bibliothek, Deutsches Buch- und Schriftmuseum und Deutsches Musikarchiv