Ein Meer von Buchstaben
Einprägsam und einzigartig: Der Neubau der Mainzer Synagoge
Vor 72 Jahren wurde die Mainzer Hauptsynagoge durch die Nazis zerstört. Jetzt hat die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt eine neue Synagoge erhalten - genau an jenem Standort in der Mainzer Neustadt, an dem die alte Hauptsynagoge stand. Die Neue Züricher Zeitung hatte bereits im Vorfeld des Baubeginns vom „vielleicht weltweit interessantesten Synagogenprojekt" gesprochen, eine Schlagzeile, die auch von anderen Blättern aufgegriffen wurde. Denn die Architektur des neuen - futuristisch anmutenden - Gemeindezentrums sorgt international für Aufsehen. Entworfen hat den Bau der Architekt Manuel Herz. Am 3. September 2010 wurde die neue Synagoge in Anwesenheit des Bundespräsidenten eingeweiht.
Der Bau: Einzigartig und charaktervoll
Dem Baseler Architekten Manuel Herz, der auch Stadtplanung an der ETH Zürich lehrt, ist mit einem Etat von sechs Millionen Euro ein besonderer Bau gelungen - einzigartig, charaktervoll und, was für viele Architekten das Schwerste ist: Maßstabsgerecht. Seine stilistische Selbstsicherheit beeindruckt ebenso wie die Materialwahl, die Bildhaftigkeit, die Integration in den Stadtkörper. Unter den hohen Platanen der Hindenburgstraße ragt das Zackengebirge der Synagogendächer zwischen den siebenstöckigen, großbürgerlichen Mietshäusern nicht auftrumpfend, sondern verbindend auf - der Vorgängerbau mit seiner überkuppelten Rotunde wirkte dagegen fast wie ein monumentales Festspielhaus. Die neue Synagoge erhebt sich in der Mainzer Neustadt zwischen Wohnhäusern und der von hohen Bäumen gesäumten Hindenburgstraße. Je nach Blickwinkel und Lichteinfall ergibt sich für den Betrachter eine neue Perspektive auf das Gebäude. Keine Wand steht im rechten Winkel zu einer anderen. Die Fassade besteht aus tausenden blaugrünen Keramik-Elementen, die wie ein asymmetrisches Stäbchenparkett wirken, das in konzentrischen Mustern um die unterschiedlich großen Fenster angeordnet ist und so eine Vielzahl von Perspektiven erzeugt.
Gebäudeteile in der Form von hebräischen Buchstaben
Der Anblick der Synagoge ist gewöhnungsbedürftig, doch das sei ein durchaus gewollter Effekt, erklärt ihr Architekt Manuel Herz. Sie solle sich dem Betrachter nicht auf den ersten Blick erschließen, sagt er: „Es soll ein Gebäude sein, welches dem Betrachter immer wieder neue und überraschende Aspekte zeigt." Denn banal dürfe eine Synagoge nicht sein. Die Silhouette des beeindruckenden Bauwerks steckt voller Symbolik. Die Gebäudeteile sind abstrahiert hebräischen Buchstaben nachempfunden. Zusammen ergeben sie das Wort "Keduschah", was so viel bedeutet wie Segensspruch oder Erhöhung. Der Bauteil, der die Synagoge beinhaltet, wird durch ein sehr hohes, hornförmiges Dach dominiert, welches das ‚Shofar’ andeutet, das Widderhorn, das an die verhinderte Opferung von Isaac durch Abraham erinnert und die Verbindung zwischen dem Menschlichen und Göttlichen zum Ausdruck bringt.
Im Inneren des Gemeindezentrums ist alles weiß, nur der Synagogenraum glänzt in einer Farbe, die zwischen Gold, Kupfer und Silber liegt. An den Wänden sind hunderttausende Schriftzeichen zu sehen – ein Meer aus Buchstaben, die sich an einigen Stellen zu lesbaren Texten zusammenfügen. Die Gestaltung der nur drei Millimeter erhabenen Buchstabenflächen, deren hebräische Texte auch aus einiger Entfernung lesbar sein sollten, sind ein Meisterwerk, das der Architekt gemeinsam mit dem Dipl. Ing. Stuckateurmeister Martin Ranft und dem Dipl.-Designer Alexandre N. Osipov geschaffen hat.
Auf der Suche nach dem richtigen Farbton
Eine Herausforderung war es, eine festliche Farbe zu entwickeln, die eine Pracht in den Synagogenraum bringt, aber die klare Identifikation mit Gold und auch zu dessen eindeutiger Symbolik vermeidet. Manuel Herz und die beiden Kunsthandwerker machten dazu erste Versuche mit einer Sprayfarbe aus der Dose, die naturgemäß wolkig und patiniert aussah. Doch genau das gefiel dem Architekten – nur ließen sich damit unmöglich 1200 Quadratmeter Fläche beschichten. In den Spritzkabinen bei Caparol begann ein fieberhaftes Experimentieren: Peter Neri, Leiter der Baudenkmalpflege bei Caparol, suchte gemeinsam mit dem Architekten und den beiden Kunsthandwerkern die perfekte Farbe für die neue Synagoge. Mehr als 15 Muster entstanden. Der richtige Farbton, der zwischen Gold, Kupfer und Silber liegt, war aufgrund der Experimente des Architekten gemischt. Bei der gewünschten Farbgrundlage waren die Farbenspezialisten gefordert, denn die Farbe musste extrem dünnschichtig sein, um den Kontrast zwischen rauem Hintergrund und der glatten Oberfläche der Buchstaben hervorzuheben. In Experimenten stellte sich heraus, dass dies mit der Acryl-Dispersionsfarbe Capadecor CapaGold sehr gut möglich ist. Sie ergibt in Zusammenspiel mit der Textur des Flachreliefs ähnlich changierende Effekte wie der Kippeffekt bei modernen Geldscheinen. Je nach Lichteinfall wirkt der Hintergrund einmal hell und die Buchstaben dunkel oder genau umgekehrt. Auf diese Weise sind die nur wenige Millimeter dicken Buchstaben des Ornaments sowie die Texte selbst aus größerer Entfernung klar erkennbar. So entstand schließlich der gewünschte Effekt, der allen gefiel und zum architektonischen Konzept von Manuel Herz passte. „Die Rezeptur der Farbe ist ein Unikat, eine völlig neue Farbzusammensetzung, denn diesen Farbton gab es bislang noch nicht. Sie wurde quasi an der Spritzpistole entwickelt", erläutert Peter Neri.
Hunderttausend hebräische Buchstaben von Hand gefertigt
Bevor die Farbe an die Wand kam, mussten die hunderttausend hebräischen Buchstaben angefertigt werden, die ganz unterschiedliche Größen hatten. Der Größte maß gerade mal fünf mal fünf Zentimeter. Eine Aufgabe, die Martin Ranft und seine Mitarbeiter gleichermaßen begeisterte und herausforderte. Vor Beginn der Arbeiten überspannten sie den frisch gegossenen, stark gefalteten Betonkörper mit einer Vorsatzschale aus Gipsfaserplatten, die alle Flächen abdeckte und die Bewegungen aus dem Untergrund aufnahm. Dann ging es an die Herstellung der Buchstaben. In einem ersten Versuch schnitten Martin Ranft und seine Mitarbeiter tausende hebräische Buchstaben von Hand aus Polystyrolplatten heraus, die als Abgussvorlage dienen sollten. Doch aufgrund zu großer sich addierender Toleranzen wurde das Vorhaben aufgegeben. Erst der Einsatz eines Lasergerätes, mit dem sowohl die Buchstaben als auch der Hintergrund herausgeschnitten werden konnte, brachte das gewünschte Ergebnis.
Experimentelles und unkonventionelles Arbeiten
Aus den so erstellten acht verschiedenen Mutterformen wurden Kautschukformen zum Herstellen der sechs Millimeter starken Ornamentplatten-Abgüsse aus Gips gefertigt. Die Gipsornamentplatten wurden nach dem Aufriss an den Wänden verklebt und auch verschraubt. „Die aufwändigste und anstrengendste Arbeit begann nach dem Versetzen der einzelnen Ornamentplatten. Unsere Mitarbeiter mussten alle Buchstaben im Bereich der Stöße miteinander verschnitzen. Dabei waren sie je nach Zugänglichkeit im Stehen oder Liegen im Einsatz, zum Teil gesichert mit Bergsteigergeschirr. Stellenweise waren die Wandflächen durch Gerüststangen oder Konsolen verdeckt, was die Arbeiten zusätzlich erschwerte", berichtet Martin Ranft. Damit die Buchstaben besser lesbar sind, mussten sie glatt sein und sich dadurch von der leicht strukturierten umgebenden Hintergrundfläche abheben. Wie aber diese Fläche strukturieren? Dabei zeigten sich die Stuckateure überaus kreativ: Die Strukturen entstanden experimentell und völlig unkonventionell, und zwar durch den Abdruck von eingebettetem 40er-Schleifpapier im Abguss. Eine Herausforderung waren dann noch die Fugen, die - weil sie glatt waren -, sich bei Streiflicht abhoben. Mit einem weiteren Trick, bei dem eine Plastikhaarbürste zum Einsatz kam, konnten auch diese strukturiert werden.
Die richtige Spritztechnik und -methode finden
Zum Schluss kam das Spritzen mit Farbe, das das Atelier für Wandmalerei übernahm. Alexandre N. Osipov probierte zunächst an zahlreichen Mustern die ideale Spritztechnik aus. „Wir entschieden uns dann für das Hochdruckspritzen, trotz möglicher Probleme mit Spritznebel, weil anders kein schöner Glanz zustande gekommen wäre", erläutert er. Der Designer und zwei seiner Mitarbeiter spritzten dann ganz dünn, drei bis vier Mal, je nach Glanzgrad und ließen die Farbe zwischendurch immer trocknen. Auch machten sie immer wieder Pausen, damit nicht zuviel Spritznebel entstehen konnte.
Die gesamten Arbeiten an der Innenwand dauerten von März bis kurz vor der Eröffnung Anfang September 2010. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen der vielen Herausforderungen und Unwägbarkeiten sind alle Beteiligten zufrieden mit den Arbeiten und begeistert vom Ergebnis. „Es war eine spannende Sache und eine echte Herausforderung im künstlerischen und handwerklichen Bereich, aber ich würde es sofort wieder machen", sagt Martin Ranft rückblickend. Und auch Alexandre N. Osipov, der schon häufiger mit dem Stuckateur zusammenarbeitete, bestätigt: „Es hat alles sehr gut geklappt und die Arbeit hat mir viel Spaß gemacht."